Kurz bevor ich es zum Eingang des Sozialzelt am Willy-Brandt-Platz in Stolberg schaffe, sprechen mich zwei Damen an. Eine, für das heutige Wetter recht frisch bekleidete, ältere Dame und ihre Tochter, denke ich mir. Können Sie der Frau helfen? Wir nennen Sie immer Mutti, spricht die jüngere Frau mich an. „Mutti“ sei zwar nicht ihre Mutter, aber die Spätaussiedlerin, sei den Leuten hier ans Herz gewachsen. Verständigen können man sich ja immer irgendwie. Ich führe die beiden zu einer jungen Sozialarbeiterin, die sich sehr einfühlsam auf sie einstellt und schließlich nach Winterfester Jacken für „Mutti“ auf die Suche macht. Was mit „Mutti“ wohl vor der Flut war, frage ich mich. Bevor ich den Gedanken verfolgen könnte, geschieht das Nächste. Viel ist hier los. Man sieht, wie bereits sehr viel aufgeräumt und bearbeitet wurde. Dennoch sieht es weiterhin bedrückend und schlicht nach Zerstörung aus. Mein Blick trifft auf die angeschlagene Fassade des afrikanischen Restaurants, welches ich kurz vor der Flut noch geplant hatte endlich auszuprobieren. Ein weiteres Personenpaar läuft den Sozialarbeitenden entgegen. Diesmal geht es um einen Streit. Ein Staubsauger sei verliehen und nicht zurückgegeben worden. Das sei Diebstahl, beschwert sich eine aufgebrachte Frau. Man muss die Situation nicht sehr differenziert lesen, um verstehen zu können, dass es weniger um tatsächlichen Diebstahl, als den „Trigger“ Verlust, oder Kontrollverlust geht. Auch hier sind die angehenden Sozialarbeiter*innen direkt präsent, ohne sich aufzudrängen. Sie moderieren, fragen nach Lösungswünschen und deeskalieren peu à peu die Situation. Nach nur 15 Minuten Beobachtung ließen sich noch viele andere Szenarien beschreiben.
Kurzum; während es in den Nachrichten und Zeitschriften außerhalb des Lokalteils seit der Flutkatastrophe, u.a. mit den Entwicklungen in Afghanistan und der Bundestagswahl, neben der Corona-Pandemie gefühlt hauptsächlich längst wieder um gänzlich andere Themen geht, trifft man hier weiterhin auf nahezu dystopische Zustände. Ich treffe mich mit Oliver Stöber, der sich eine halbe Stunde Zeit nimmt, um mit mir über das Sozialzelt am Willy-Brandt-Platz zu sprechen. Jetzt schon möchte ich Sie auf den Aufruf am Ende des hier vorgestellten Gesprächsausschnitt aufmerksam machen. Wenn Sie sich angesprochen fühlen, melden Sie sich gerne! Wenn Sie diesen Aufruf teilen möchten, streuen Sie ihn, in alle Richtungen, die Ihnen sinnvoll erscheinen!
Wie ist es zum Engagement von AStA/StuPa gekommen?
In der Nacht des 15. Juli kam die Flut. Innerhalb der zwei Wochen danach herrschte in Stolberg vor allem Chaos, schildert Oliver Stöber. Die Hilfe für die Betroffenen leisteten neben der Feuerwehr und dem THW, hauptsächlich Freiwillige. Darunter auch sehr viele Studierende der Sozialen Arbeit. So habe man sich innerhalb dieser zwei Wochen immer wieder untereinander getroffen und mit den weiteren Helfer*innen vor Ort unermüdlich, so lange gearbeitet, bis irgendwann die Keller leer waren. Im Zuge dessen haben sich die Studierenden der katholischen Hochschule die Menschen der Notfallseelsorge konkret ausgeguckt und angesprochen, um über weitere Möglichkeiten und Notwendigkeiten auszutauschen, so Oliver Stöber. Über diesen Kontakt ist es schließlich dazu gekommen, dass sie, unter der Fahne von AStA/StuPa der katho, mit im Einsatzbefehl des DRK aufgenommen wurden, um so als multiprofessionell besetzte Teams auf Einsatzwagen durch Stolberg unterwegs zu sein zu können. Man wolle mehr in den Blick nehmen, als lediglich die Umsetzung der Spendenverteilung. Es muss mehr in den Blick genommen werden. Darin waren sich alle Helfenden nach den Erlebnissen der ersten zwei Wochen einig. Zusammen mit der der Notfallseelsorge habe man einen tiefergehenden Blick hinzugefügt, um Hinweise auf vulnerable Gruppen und besondere Anliegen frühzeitig registrieren zu können. Diese Phase lief weitere zwei Wochen, ohne dass sie bewusst von der Stadtverwaltung, deren Funktionsfähigkeit selbst aufgrund der Flut sicherlich auch massiv beeinträchtigt war, wahrgenommen wäre, so Stöber. Parallel zu diesen Entwicklungen formierten sich die Zelte am Willy-Brandt-Platz, wo seither psychosoziale Erstberatungen und Begleitungen bei Antragsverfahren angeboten werden.
Was zeigt sich im Sozialzelt?
In der angebotenen Einzelfallhilfe und psychosozialen Anlaufstelle ging es in den ersten Tagen vor allem um Anträge für Soforthilfeleistungen sowie eine Anlaufstelle inmitten der Unruhe, Unsicherheit und teils traumatischen Erfahrungen. Zu Beginn waren es kleine Hilfen, in Form von Handgeld der Stadt, die beantragt werden konnten. Später waren dann größeren Hilfen möglich, durch Landes- und Spendenmittel. Knapp 150 dieser größeren Anträge habe man geholfen zu stellen. Schnell wurde den Helfer*innen deutlich, dass es die Menschen, denen man im ehrenamtlichen Sozialzelt zur Seite steht, von alleine nicht geschafft hätten, sich ihr Recht auf diese Antragsstellungen zu erwirken, konstatiert Oliver Stöber. Weiterhin seien kaum offizielle Angebote vor Ort erkenntlich, die niedrigschwellig, aufsuchend oder gut erreichbar sind. Im Sozialzelt zeige sich recht bedrückend die erschwerten Zugänge unterschiedlicher vulnerabler Gruppen. Holzschnittartig können hier besonders Armut, Alter und Ausländerstatus hervorgehoben werden. Immer noch schlagen hier Menschen auf, die alles verloren haben und die nix darüber wissen, wie sie an Hilfe kommen könnten. Hier sind so viele Menschen, die sich schlicht nicht alleine helfen können. Immer noch hat die hier kaum jemand im Blick und die sind nicht in der Lage, ihre Situation und Bedürfnisse lautstark zu äußern. Dies trage bisher das zivilgesellschaftliche Engagement der vielen Stolberger*innen und Ehrenamtlichen. Dadurch entwickelte sich sukzessiv die zweite Säule des Sozialzelts, aktiv dabei zu helfen, ein selbstgestütztes Community Organizing zu empowern. Nach der Notfallhilfe in den ersten Stunden und Tagen der Katastrophe, über die Einzelfallhilfe, in psychosozialer Erstberatung, Weitervermittlung und Hilfestellungen bei Antragsverfahren, formieren sich die Hilfen am Willy-Brandt-Platz aktuell dahingehend, die Nachbarschaften der sogenannten „Talachse Stolberg Innenstadt“ dazu zu befähigen, selbst das Community Organizing in die Hand zu nehmen. Wir helfen momentan Runden zu organisieren, wo sich die Menschen zusammenfinden und dann zukünftig möglichst selbstgesteuert, um ihre Angelegenheiten organisieren und als sozialräumliche und weitesten Sinne selbst als politische Akteure agieren können, so Oliver Stöber. Ein Leitthema hierfür ist das ohnehin vor der Flut geplante Bürgerzentrum, in dessen Entstehung die Akteure des Sozialzelts nun miteinbezogen werden. Zunächst jedoch steht die Aufgabe an, die provisorischen Zelten in dafür anzuschaffenden Container zu verstetigen und das Angebot wintertauglich werden zu lassen.
Nächster Schritt: Hochwasserbefragung inklusive(!) Notfallmanagement
Der nächste wichtige Schritt ist die bereits laufende „Hochwasserbefragung“. Die Stadt Stolberg führt mit AStA/StuPa der katho- NRW gemeinsam eine Umfrage in der Stolberger Innenstadt, entlang der Talachse durch. Ziel ist es, den Hilfebedarf der Menschen festzustellen, die von der Flutkatastrophe betroffen sind, um adäquate Unterstützung organisieren und leisten zu können (Link zu näheren Informationen). Auch hier wird es nicht nur um den Wiederaufbau der betroffenen und zerstörten Häuser und eine Existenzsicherung gehen. Die Ergebnisse der Befragung, welche maßgeblich von den Akteur_innen des Sozialzelts mit konzipiert wurde, werden genutzt, um mit einem weiter gefassten und tiefergehenden Blick für notwendige Hilfsangebote für die Bürger*innen zu öffnen, woran folgende Intervention anschließen können. Notfälle, also Haushalte ohne Strom, Heizung usw., werden über den Online-Fragebogen automatisiert und tagesaktuell an die Stadt übermittelt, damit diese in der Gefahrenabwehr aktiv werden kann. Täglich erfolgt ebenso die Auswertung der Papierfragebögen, die an den drei extra dafür vorgesehenen Briefkästen im Innenstadtgebiet (Standorte: https://psnv.sozialarbeiten.de/befragung/ablauf/) eingeworfen werden können.
Nochmal konkreter: Die Befragung ist keine Meinungsforschung, sondern eine sozialarbeitsfundierte, forschende Intervention und macht diese Aktion zum zentralen Angebot der Stadt, über die die Menschen aus ihrer Not geholt werden sollen.
Es ist ein ambitioniertes, kluges und beispielhaftes Vorgehen der angehenden Sozialarbeiter*innen, mit Kopf, Herz und Hand. Dabei können Sie, die Sie mitlesen und sich vielleicht angesprochen fühlen, mithelfen!
Knapp 4.000 Haushalte mit ungefähr 10.000 Menschen werden mit dem Fragebogen ab jetzt aufgesucht. Dafür werden Hilfskräfte gesucht. Es ist keine Vorerfahrung notwendig. Täglich findet eine kleine Einweisung um 16:00 Uhr und 18:00 Uhr am Sozialzelt statt. Danach kann prinzipiell jede Person dabei helfen, diese Umfrage durchzuführen und möglichst viele der im Text geschilderten Personen zu erreichen.
Interessierte können sich, ganz formlos, an folgende E-Mail Adresse melden:
Bild: Privat
Johannes Mertens, ist Redaktionsmitglied von Care-Lichtblicke, wohnt in Aachen und arbeitet dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Katholischen Hochschule NRW.