Wir handeln nicht, wie wir denken. Wir denken, wie wir handeln, bzw. anhand dessen, was sich praktisch bewährt. Bis zu dem Punkt, wo es sich eben nicht mehr bewährt. Pierre Bourdieu beschrieb jene trügerische Lebensgewissheit eines, dem Denken nach orientierten menschlichen Handeln, als scholastischen Epistemozentrismus (Bourdieu 2001, S. 68). Für manche mag die Beachtung der Care/Sorgearbeit erst in den Fokus des Denkens und Handels gelangen, wo die Ordnung der Welt in kürzester Zeit komplett außer sich und ihren Fugen geraten ist. Die Pandemie lehrt die modernen, hochtechnologisierten und individualisierten Gesellschaften weltweit, welche Weisheit und Tugend der Erfahrung aus Care/Sorgearbeit innewohnt. Wir Menschen sind allesamt durch ein unsichtbares Band, unserem bedingt autonomen, biopsychosozial- und spirituellen Menschsein, verbunden. Weder reguliert eine unsichtbare Hand des Marktes, die darüber hinaus längst an Arthrose erkrankte, die Geschehnisse, noch können Grenzen uns vor einem vermeintlich bösartigen Fremden beschützen. Es geht um uns selbst.
Den Sorgesegmenten der Gesellschaft sollten wir vielmehr als anthropologisches und moralisches Lernfeld begegnen, in welchem die Begegnung im Menschsein, als Inkommensurabilität und einer nicht einzig in instrumenteller Logik fassbaren Form, immanent enthalten ist. Genauer, einer Erfahrung der Endlichkeit, der Verletzlichkeit, der Fragilität, wie es zurzeit das Coronavirus offenbart und eine vermeintliche Andersartig von Menschen unter Menschen erodiert. Die Sorgephilosophin und Politikwissenschaftlerin Joan Tronto zeigt uns auf, dass das was wir denken, vielmehr Resultat unserer (Sorge)Handlungen ist. Nach Tronto schärft Care/Sorge als Lernprozess unsere Achtsamkeit darauf, wie wir über Verantwortung, unser Handeln, unseren Umgang mit der Umwelt und über unsere Prioritäten im Leben denken. Eine gut funktionierende, ideale Demokratie wäre demnach voll mit Menschen, die sich umsorgen. Aufmerksam, verantwortlich, kompetent und rücksichtsvoll (Tronto 2015, S. 8).
Aktuell zeigt sich, wie ein wechselseitiges Füreinander der Sorgearbeit das Zentrum einer lebenswerten Welt bildet und „systemrelevant“ den Laden am Laufen hält. Sicherlich muss an anderer Stelle noch konkreter geklärt werden, welche Modellvarianten und Strategien sich hierfür, im Dilemma zwischen Leben retten einerseits sowie der Abwägung sozialer, kultureller und ökonomischer Langzeitfolgen und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit andererseits, für alle bewähren (Stichwort: „cocooning“). Bisher wurde jedoch die Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit leider als Selbstverständlichkeit und in skandalös unterbezahlten Berufsgruppen, die allesamt eine Verlängerung des weiblichen Haushaltes bilden, gedacht (Winker 2015). Die Gender Care Gap markiert eine bisweilen, kaum mehr über eine gesamte Berufsbiografie, geschweige denn in einer Vollzeitanstellung aushaltbare, Schieflage und Zumutung für alle Sorgearbeiten. Nun wird sie zur Schieflage der gesamten Gesellschaft. Das Problem der globalisierten und säkularisierten Welt ist, was übrigbleibt, wenn alles verschwunden ist (Baudrillard 2012, S. 16).
Ein moralischer Fortschritt nach dieser globalisierten Krise heraus, die zurzeit die Alten und Schwachen hinrichtet, während sich Berufskonsument_innen narzistisch in ihrer Freiheit beraubt sehen, könnte es sein, diese längst bekannten Schieflagen, in den nun gemeinsam spürbaren Erfahrungen aufzudecken und abzuschaffen, sodass es nicht mehr Sache des Einzelnen sein kann, selber eine Lösung für Probleme suchen zu müssen, die er nicht verursacht hat (Bauman 2017, S. 98). Eine gut bezahlte, stabile Sorge in Form einer professionell organisierten Caring Community wäre sicherlich ein Kernelement für brauchbare, langfristige Strategien. Ich hoffe, dass politisch und gesellschaftlich in der kommenden Zeit eingeübt wird, wie wir die schwierigen und komplexen, moralischen und ökonomischen Entscheidungen vernünftig und nachhaltig treffen können, um uns für die nächste Pandemie, die nochmals gefährlichere Klimakrise, Prinzipien der Menschenrechte und sozialen Gerechtigkeit, Migrationsfragen usw. besser positionieren zu können. Allein der bisweilen kollektiv eingestandene und getragene Stillstand zeigt, 1) dass es möglich ist und 2) es niemals nur eine einzige Handlungsoption gibt. Sonst gäbe es keine Wahl und keine Verantwortung. Harry Frankfurt wendet es in „the importance of what we care about“ so, dass die Wichtigkeit, die unsere Sorge für uns schafft, die Standards und Zwecke bestimmt, an denen wir unser Lebens auszurichten versuchen (Frankfurt 2014, S. 29). Sagen wir dies nur, um uns gedanklich gut zu fühlen, entlarvt Frankfurt es schlicht als Bullshit (Frankfurt 2013, S. 70–71).
Wir sind, worum wir uns sorgen!
…alles andere ist Bullshit
Literaturverzeichnis
Baudrillard, Jean (2012): Warum ist nicht alles schon verschwunden? 2. Aufl. Berlin: Matthes & Seitz.
Bauman, Zygmunt (2017): Das Vertraute unvertraut machen. Ein Gespräch mit Peter Haffner. 1. Auflage. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Frankfurt, Harry G. (2013): Bullshit. 5 Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Frankfurt, Harry G. (2014): Gründe der Liebe. 1. Auflage. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2111).
Tronto, Joan C. (2015): Who cares? How to reshape a democratic politics. Ithaca: Cornell Selects, an imprint of Cornell University Press.
Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. s.l.: transcript Verlag (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft).
Bild/Quelle: Mike Erskine / Unsplash
Johannes Mertens, ist Redaktionsmitglied von Care-Lichtblicke, wohnt in Aachen und arbeitet dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Katholischen Hochschule NRW.