Man befindet sich für unbegrenzte Zeit auf einer Berghütte oder in einem Basislager, ohne weitergehen zu können. Der Gipfel, zu dem man unterwegs ist und den man vielleicht schon längst hätte erreichen können, bleibt in weiter Ferne. Die äußeren Umstände zwingen zu diesem nicht vorhergesehenen Halt, ein Wetterumschwung hält alle fest, keiner kommt weiter, nichts geht mehr.
So in etwa umschreibt der Benediktiner Anselm Grün in seinem jüngsten Buch Quarantäne den Begriff ‚Lagerkoller‘, der in diesen Tagen und Wochen so manchem vertraut sein dürfte. ‚Bleiben Sie zuhause‘, lautet eine der Grundregeln, die noch immer zu befolgen sind und mit der Zeit immer tiefere Spuren in unser Dasein und auch in unser Bewusstsein graben. Nur bedingt ins Freie zu können, verbindet sich mit dem Gefühl, auch innerlich festzusitzen und auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu sein. Ein Gefühl tiefer Ziellosigkeit macht sich breit, so Anselm Grün, wenn man sich diesem Lagerkoller überlässt, der uns „am Fuß des Gipfels zum Zuschauer unseres Lebens macht.“
Anselm Grüns bildhafte Diagnose der gegenwärtigen, mitunter lähmenden Lebenssituation führt auch vor Augen, wie bedeutsam Ziele sind und wie geradezu lebensnotwendig es ist, auch in Ausnahmezeiten wie diesen, daran festzuhalten. Denn sie setzen eine innere Dynamik frei, die beseelend wirkt und dazu beiträgt, das eigene Leben und Handeln als sinnvoll zu erfahren. Kurzfristige, schnell zu erreichende konkrete Ziele (gemeinsames Kochen, Entrümpeln, Liegengebliebenes aufarbeiten etc.), sind daher ebenso ratsam, laut A. Grün, wie langfristige, größere Ziele, die man wie einen fernen Gipfel nicht aus dem Blick verlieren sollte. Wichtig allein ist, hebt A. Grün hervor, dass es keine vagen Wunschträume oder Luftschlösser sind, sondern verbindliche Ziele, für die man aktiv eintritt, selbst wenn sie Disziplin, Mühe und Arbeit erfordern.
Anselm Grüns Überlegungen machen zum Stichwort Lagerkoller nur einen Aspekt seines schmalen, doch auf kleinem Raum vielschichtigen und tiefsinnigen Quarantäne-Buches aus. Sie verdeutlichen, dass die angemessene, nicht überängstliche Sorge um sich selbst ebenso nötig ist wie die „rechte Sorge“ für den/die Mitmenschen, getragen von Mitgefühl und Solidarität. „Die rechte Sorge ist konkret, ist konstruktiv, sie ist solidarisch.“
Umgekehrt könnte uns die gegenwärtige Ausnahmezeit daher auch lehren, Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen, Ballast abzuwerfen und die eigenen Ziele daraufhin zu überprüfen, ob sie wirklich dazu taugen, die eigene Lebensspur in die Welt einzugraben. „Die Frage, was uns definiert, ist eine grundlegende Frage nach Identität“, schreibt A. Grün. Nicht nur sie verdeutlicht, dass die gegenwärtige Quarantäne durchaus auch ein Lichtblick sein kann. Denn sie fordert dazu heraus, etwas damit anzufangen und etwas daraus zu machen.
(Literaturangabe: Anselm Grün, Quarantäne. Eine Gebrauchsanweisung. So gelingt friedliches Zusammenleben zu Hause. Freiburg i.Br. 2020.)
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Doris Krockauer, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der KatHO NRW, Abt. Aachen.