Wir erinnern uns: Am Anfang der Corona-Krise standen Menschen auf Balkonen und an Fenstern, um Pflegekräften, Ärzten und Rettungs- und Sicherheitskräften Beifall zu spenden. Sie zeigten in diesem Moment, dass sie den Menschen in den Krankenhäusern oder stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen Dank schulden, weil ihr Einsatz ganz offensichtlich in der Krise unschätzbar viel wert ist. Auch der Kopfarbeiter und Philosoph Peter Sloterdijk verbeugte sich in diesen Tagen hochachtungsvoll vor den Pflegearbeitern: „Die Helfer geben ihr Äußerstes.“ Dabei wäre diese und andere Beifallsbekundung schon längst nötig gewesen: Denn viele Pflegekräfte, vor allem Frauen, sind schon vorher bis an und über die eigenen Grenzen der körperlichen und seelischen Belastung gegangen. Für eine vergleichsweise bescheidene Bezahlung waren und sind sie rund um die Uhr präsent, spenden persönlichen Trost, sind vor Ort und verkörpern leibhaftig für viele Alleinstehenden, Hilfe- und Pflegebedürftigen Hoffnung.
Am heutigen Internationalen Tag der Pflege ist festzuhalten: Professionelle Pflegearbeit in den Altenhilfeeinrichtungen oder Krankenhäusern ist unschätzbar viel wert. Das Bewusstsein dafür werden Bürgerinnen und Bürger und damit die ganze Gesellschaft über die gegenwärtige Krise hinaus bewahren müssen. Aber Pflege hat nicht nur Anerkennung verdient, sondern auch Anerkennung einzufordern – angesichts der bedenklichen Ausweitung von Arbeitszeiten, einer tendenziell untertariflichen Bezahlung und eines immer anspruchsvoller werdenden Pflegebedarfs und erschreckenden Personalmangels. Nicht nur von der Politik, sondern auch von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wurde und wird sie zum Teil sträflich im Stich gelassen. Das gilt auch und besonders für den Bereich und für die Bedeutung der ambulanten Pflege. Ihre Dienste an der Schwelle von Systemen und Lebenswelten sind und bleiben ein starkes Zeichen für personenbezogene Nähe und lebensweltliche und systemübergreifende Verbundenheit.
Pflege zuhause erfahren hat am Ende seines Lebens Norbert Blüm. Am 23.4. ist der hoch geschätzte Bundesminister, Sozialpolitiker und Vater der Pflegeversicherung in Bonn im Alter von 84 Jahren verstorben. Zuletzt an Armen und Beinen gelähmt reflektiert er bei vollem Bewusstsein über das Glück, gehen oder ohne Einschränkungen atmen zu können. Im Zustand radikaler Pflegebedürftigkeit wird ihm klar, was einem dies an Erkenntnis ermögliche: dass einem selbst die Krankheit und Pflegebedürftigkeit keine „Flucht in Ausreden“ erlaube, sie uns vielmehr schnörkellos zu dem führe, „was wir sind.“ Zugleich erkennt er aber auch die Bedeutung, ja Dignität der ihn Pflegenden und ihn Versorgenden. „Ich verstehe bis heute nicht, warum die Pflegekräfte sich vornehmlich als Objekt von Ausbeutung öffentlich darstellen lassen. … Menschen zu dienen ist doch mehr wert, als Maschinen zu bedienen. Vom Wert von Berufen, die es mit Menschen zu tun haben, höre ich wenig. Ich kenne nicht viele Berufstätige, die von ihren ‚Kunden‘ so herbeigesehnt werden wie die Pflegenden von ihren Patienten. Ich jedenfalls habe es immer wie einen Lichtschein empfunden, wenn die Tür sich öffnete und eine Schwester oder ein Pfleger ins Zimmer trat.“
Die Diskussion um den Wert und die Bedeutung von Pflege ist aktuell in eine breite interdisziplinäre Care-Debatte in Wissenschaft und Öffentlichkeit eingebettet, die auch dem Blog „Care-Lichtblicke“ zugrunde liegt. Die Sorgepotenziale familialer und professioneller Hilfe und die Zukunft einer sorgenden Gesellschaft rücken dabei in den Blick und wecken den Sinn für lebensbedeutsame zivilgesellschaftliche Potenziale. Besonders Pflegearbeit ist für eine solidarische Gesellschaft unverzichtbar. Das wird immer deutlicher. Angesichts zunehmender Isolierung, Einsamkeit und großer Spaltungstendenzen in der Gesellschaft ist und bleibt sie sogar ein Segen. Gerade am heutigen Tag der Pflege hat sie also unser aller Lob verdient!
Blüm Norbert, Was bedeutet mein Unglück? Im Rollstuhl fällt der Blick auf das Leben anders aus, in: DIE ZEIT, Nr. 12 (12. März 2020)
Sloterdijk Peter, „Für Übertreibungen ist kein Platz mehr“. Interview mit Adam Soboczynski, in: DIE ZEIT, Nr. 16 (8. April 2020)
Ketzer Ruth, Adam-Paffrath Renate, Borutta Manfred, Selge Karola, Ambulante Pflege in der modernen Gesellschaft. Aktuelle Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven, Stuttgart 2020.
Bild/Quelle: Colin D / unsplash
Rainer Krockauer; Redaktionsmitglied von care-lichtblicke; Professor für Theologie und Ethik an der Kath. Hochschule NRW, Abt. Aachen.