Kürzlich stand in der Zeitung ein Porträt über einen in die Jahre gekommenen Schlagerstar, der seinen achtzigsten Geburtstag feiern konnte. Es war viel von vergangenen Zeiten die Rede, den unterschiedlichen Moden und politischen Entwicklungen. Doch gleich im ersten Abschnitt war ein Wort zu lesen, das mit wehmütigem Beigeschmack an etwas erinnerte, das in diesen Tagen wie eine Kostbarkeit aus früheren Zeiten wirkt: Von „Begegnung“ war die Rede. Der Autor des Artikels räumte selbst ein, dass er glücklicherweise vor „Corona-Zeiten“ dieses Interview mit dem Porträtierten führen konnte, wohlwissend, dass jene geschilderte Begegnung heute in dieser Form nicht möglich wäre.
Fragt man in Corona-Zeiten Menschen im näheren Umfeld, was ihnen wohl am meisten in dieser Krisenzeit trotz vielfältiger Lockerung von Kontaktmöglichkeiten fehlt, antwortet so mancher: Die ungezwungene „Begegnung mit anderen Menschen“. An vieles will man sich derzeit nicht gewöhnen, selbst wenn man den Sinn bestimmter Maßnahmen einsieht und sie folgerichtig einhält. Mundschutz zu tragen, der auch das Lächeln verbirgt, durch Plexiglasscheiben mit der Kassiererin wortkarg zu kommunizieren, fortwährend Abstand zu halten, da der eine zum Infektionsrisiko des anderen werden kann. Die Kontaktbeschränkungen sind zwar gelockert, und die ersten Besuche in in den Alters-und Pflegeheimen wieder möglich, Großeltern sollten noch immer den Kontakt zu den Enkelkindern vermeiden. Und was ist mit den vielen Familienfesten und Hochzeitsfeiern, die verschoben werden mussten, oder den vielen Beerdigungsfeiern, bei denen eine größere Personenzahl ausgeschlossen wurde?
Das erinnert einen daran: Begegnungen sind wichtig und elementar. Sie entsprechen einem menschlichen Grundbedürfnis, miteinander in Kontakt zu treten und sich auszutauschen. Was zählt im Leben sind jene Begegnungen, denen wir eine Liebeserklärung verdanken, ein Wort der Vergebung oder des Trost empfangen, aber durchaus auch Begegnungen, die uns durch eine heftige Auseinandersetzung innerlich aufwühlen. Es bleibt also gültig: Was im Leben zählt, sind diese leibhaftigen und realen Begegnungen, im Angesicht und in der unmittelbaren Nähe des anderen. Daran werden wir in diesen Tagen schmerzlich erinnert, wenn wir viele reale Begegnungen durch eine Vielzahl an Video- und Telefonkonferenzen, Telefonaten und Mails zu ersetzen haben.
Auch der Apostel Paulus kannte die elementare Bedeutung von Begegnungen, vom lebendigen Austausch von Mensch zu Mensch. In seinem Brief an die Römer schreibt er, vielleicht auch stellvertretend für manche von uns, die aktuell Abstand wahren bzw. auf Abstand gehalten werden: „Denn mich verlangt danach, euch zu sehen….. (Röm, 1,11; Luther) Martin Buber, dessen Gedenk- und Todestag heute (13.6.1965) ist, wusste bekanntlich: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Ihm verdanken wir auch jene legendäre Geschichte aus den Erzählungen der Chassidim, die in diesen Tagen eine wichtige Erinnerung wachruft:
Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte einer seiner Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi. „ist es, wenn man einen Apfelbaum von einer Birke unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“, fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
Bild/Quelle: Marissa Price / Unsplash
Rainer Krockauer; Redaktionsmitglied von care-lichtblicke; Professor für Theologie und Ethik an der Kath. Hochschule NRW, Abt. Aachen.