„Seit Monaten habe ich Angst! Angst zu erkranken, Angst, meine Familie zu sehen. Danke, dass das ein Ende findet!“ Das bekennt eine 88jährige Dame offenherzig ihrem Gegenüber bei der aktuell in den Altenheimen stattfindenden Covid – 19 – Impfung. Endlich wieder Aussicht auf ein sorgenbefreites Leben und ein Ende der schmerzhaften Einschränkungen durch die Pandemie! Mit der Aussicht auf Impfung ist in diesen Tagen mancherorts Aufatmen zu verspüren, und Menschen nehmen in den Blick, was sie in, aber vor allem nach der Pandemie (auf)leben und glücklich sein lässt.
Das ist in der Tat ein guter Impuls zu Beginn dieses neuen Jahres. Es lohnt, sich selbst zu befragen, was einen unter widrigen Umständen und was einen vor allem grundsätzlich glücklich und zufrieden leben und was sich dafür selbst tun lässt. Klaus Brinkbäumer und Samiha Shafy, zwei Journalisten, sind für diese Frage (vor der Pandemie) um die Welt gereist, um dazu Hundertjährige nach ihren Antworten und Lebenseinsichten zu befragen – in Sardinien, Kalifornien, Österreich oder auch in Japan. Und: Sie besuchten jene Wissenschaftler, die das Wesen dieser erstaunlichen, lustigen und weisen Alten ergründen. Herausgekommen ist eine spannende Reportage und Studie über Hundertjährige und ihre Antworten, wie man lange und glücklich lebt, und was wirklich zählt, damit das eigene Leben gelingt.
Die Weisheit dieser Hundertjährigen könnte unser Interesse daran wecken, was im Blick auf die eigene Lebensführung nachhaltig Sinn macht. Im Buch kommt ein bekannter Mediziner zu Wort, den die Weisheit der Hundertjährigen schon lange brennend interessiert. Der Japaner Dr. Makoto Suzuki, mittlerweile selbst über 85jährig, beschäftigt sich seit Jahrzehnten damit. Er ist jener Kardiologe, der einst herausfand, dass Okinawa, eine Inselgruppe im Süden Japans, in vielerlei Hinsicht ein „geradezu gesegnet glücklicher Ort ist“. Denn die Menschen werden dort viel älter als Menschen anderswo, sogar sehr viel älter. „Und es sind sehr viele Menschen, die hier sehr viel älter werden“, bemerken die beiden Autoren und ergänzen: Makoto Suzuki hat in den viereinhalb Jahrzehnten seiner Arbeit (und Studien der Hundertjährigen von Okinawa) gelernt und aufgeschrieben, was helfen kann, um lange glücklich zu leben. Sie zählen dann im Grunde wenig Überraschendes auf: Die richtige Ernährung, ausreichende tägliche Bewegung, lebenslanges, neugieriges Lernen, schließlich den Humor, der hilft, einen hingebungsvollen Schlaf und nicht zu vergessen natürlich die Gemeinschaft in Familie und im Freundeskreis.
Aber das alles, so fasst Suzuki im Interview zusammen, wird das Geheimnis der Hundertjährigen im Kern nicht abschließend erklären. Er greift dann dazu als Erklärung auf einen philosophisch-spirituellen Schlüsselbegriff in der japanischen Denktradition zurück, der sich seit dem 14. Jahrhundert gehalten hat und für eine ganz bestimmte Haltung im Leben und zum Leben steht: IKIGAI. Dieser Begriff bezeichnet, frei übersetzt, das, wofür es sich zu leben lohnt, die Freude und das Lebensziel oder salopp ausgedrückt: das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt, morgens aufzustehen. Suzuki fügt hinzu: „Ikigai meint unsere Leidenschaft, unsere Berufung, unsere Mission, unseren Beruf (hoffentlich), und es meint unsere Liebe. Ikigai ist die Kunst, zugleich bedingungslos und entspannt genau das zu tun, was uns etwas bedeutet, was uns glücklich macht“ – und das ein Leben lang. Denn in Japan gebe es kein Wort für „Rente“ oder „Ruhestand“, es liege im Wesen des ‚Ikigai‘, dass eine Berufung niemals endet – zumindest nicht vor dem Tod.
Es lohnt wirklich, gerade im Rückblick auf das vergangene Corona-Jahr, herauszustellen, was einem im Leben wichtig war, bleibt und vielleicht noch mehr werden sollte: Die Konzentration auf das eigene IKIGAI, die eigene Leidenschaft und Mission, die eigene Berufung und Liebe. Denn, so würde ich dem Medizinerkollegen zustimmen und freimütig bekennen: Ohne Leidenschaft gibt es kein erfolgversprechendes Engagement! Ohne ein Verständnis von Mission keine nachhaltige Realisierung von Projekten! Ohne aufrichtige Liebe gelingt keine sinnstiftende Beziehung unter Menschen, und ohne Berufung macht auch der Beruf wenig Sinn. Meine Zustimmung wird auch durch die Erfahrung mit Menschen im letzten Jahr bekräftigt (vgl. https://www.care-lichtblicke.de/index.php/2020/12/16/dank-den-sorgenden/ ), die nicht nur in der Altenpflege im Angesicht der Pandemie ihre Leidenschaft für die Pflegearbeit nicht aus dem Auge verloren bzw. neu entdeckt haben, die auf Nachfrage oft ihre Mission, anderen zu helfen, freimütig bekannt haben, die sich aber v.a. gegen jegliche Einsprüche von außen an der Verbundenheit mit den Schwächeren und Verletzlichen festgehalten und dies bezeugt haben.
Am Ende soll ein fast Hundertjähriger das letzte Wort haben: Ernesto Cardenal. Am 1.3.2020 ist der große Dichter, Priester und Revolutionär aus Nicaragua im Alter von 95 Jahren in Managua verstorben. Er wird allen, die ihn gekannt und gelesen haben, schmerzlich fehlen, aber seine Texte bleiben für immer! Cardenal hat mit seinen Texten den Kapitalismus auf seine Seelenlosigkeit hin durchleuchtet, verfolgte lebenslang eine rebellische Vision von Gerechtigkeit und Liebe und setzte dem Hass und der Gewalt die Macht von Worten und Gesten entgegen. Cardenal glaubte bis zuletzt an die „Revolution der Liebe“. Denn, wie er noch zuletzt bei einer Lesung bekräftigte: „Der Hass ist immer reaktionär. Nur die Liebe ist revolutionär.“ Uns allen in diesem Sinne und in diesem Jahr alles Gute!
Literatur:
Brinkbäumer, Klaus/ Shafy, Samiha (2019): Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben. Die Weisheit der Hundertjährigen. Eine Weltreise, Frankfurt/M.
Cardenal, Ernesto (2004): Das Buch von der Liebe, Aus d. Span. v. Anneliese Schwarzer de Ruiz, 5. Aufl. Wuppertal.
Bild / Quelle: Ellen26 / pixabay
Rainer Krockauer; Redaktionsmitglied von care-lichtblicke; Professor für Theologie und Ethik an der Kath. Hochschule NRW, Abt. Aachen.