Woher nimmt ein Mensch die Kraft, einen pflegebedürftigen Angehörigen über Jahre hinweg zuhause würdig versorgen zu können und dabei für sich selbst nicht verloren zu gehen? Wo können die eigenen Kraftquellen liegen? Diese und damit verbundene Fragen stellt die Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim in ihrem persönlichen und tiefgründigen Buch Leben ist ein vorübergehender Zustand, das von zehn wechselvollen Jahren an der Seite ihres schwerkranken Mannes erzählt.
Die Bewältigung dieses Lebens und des erschöpfenden Alltags mit ganz unterschiedlichen, gravierenden Herausforderungen an sie und ihren von zwei Schlaganfällen schwer gezeichneten Gatten erweist sich als existentieller Balanceakt zwischen Fürsorge und Selbstsorge. Beides erfordert größtmögliche Achtsamkeit für das rechte Maß – wessen bedarf der Kranke, was braucht man selbst – sowie Energie und Zuversicht, den täglichen Herausforderungen begegnen zu können. „Kraft holt man sich auch daraus, anderen Kraft zu geben. In anderen Worten: gebraucht zu werden, helfen zu können. Kraft holt man sich aus den Menschen, die einem nah sind. Und überfordert sie, wenn man nicht aufpasst, wenn man sich nicht selber auflädt in geklauter Zeit. Dann sitzt man am Abend in einem Restaurant an einem schönen Platz, bestellt sich einen Grünen Veltliner, raucht eine Zigarette, isst einen Flammkuchen und verbindet sich mit der lauen Luft. In der er nicht ist. Man denkt an sich und nicht an ihn.“
Die Suche nach Kraftquellen – für sich und auch für ihn – macht in diesem Buch ein zentrales Thema aus, gerade weil es trotz besseren Wissens nur selten gelingt, „die innere Freiheit zu leben, während die äußere Freiheit schrumpfte. Ein hehres Ziel. Oft notiert. Und selten erreicht. Dem Lauern der Lebensverheerung, den Zumutungen des Alltags bin ich immer wieder kleinmütig erlegen.“ Dennoch beleuchtet das Buch auch unterschiedliche Möglichkeiten, eigene Ressourcen immer wieder neu zu erschließen, nicht zuletzt durch einfache, elementare Tätigkeiten wie z.B. achtsames Kochen, gemeinsames Essen mit Freunden oder bewusst gestaltetes Wohnen und Zuhause-Sein.
Derartige Kraftquellen können zu Quellen des Trostes werden. Allen voran zählt dazu auch die Literatur bzw. das Lesen und Vorlesen, was beiden Seiten Kraft schenkt. Im Lauf der Zeit bildet sich ein Kreis von „Vorlesern“, die dem Schwerkranken kontinuierlich aus Publikationen und Büchern vorlesen und so mit ihrer Anwesenheit und Stimme ein breites Spektrum von Geschichten weitergeben. „Wir brauchen Geschichten, um zu leben“, zitiert von Arnim indirekt die großartige amerikanische Autorin Joan Didion, die in ihrem Erinnerungsbuch Das Jahr magischen Denkens (2005) von dem plötzlichen Tod ihres Mannes und der lebensbedrohlichen Krankheit ihrer Tochter erzählt.
Dass Bücher Kraft und Orientierung geben können, weil sie einen Schatz von Erfahrungswissen und Weisheit bergen können, zeigt im doppelten Sinn Gabriele von Arnim Buchs. Nicht nur die Autorin profitiert von ihrer Lektüre, die sie durch Zitate reflektierend in ihre Erzählung einbaut, sondern auch diejenigen, die ihr kluges und ehrliches Buch lesen. Indem es das Ringen um Kraft zwischen Gelingen und punktuellem Scheitern schildert, gibt es zugleich Zeugnis innerer Stärke, gemäß jenes Spruches Rudolf Steiners, der nach eigenem Bekunden den Schreibtisch der Autorin zierte: „Ich trage Ruhe in mir, / Ich trage in mir selbst / Die Kräfte, die mich stärken.“
Literaturangabe:
Gabriele von Arnim, Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Hamburg 2021
Bild/Quelle: Nick Fewings on Unsplash
Doris Krockauer, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der KatHO NRW, Abt. Aachen.