„Retrospektiv Corona. Haben wir an alle gedacht?“ – Ein Erfahrungsbericht zu Hilfen im häuslichen Umfeld oder ambulanten und stationären Angeboten der (Alten-)Pflege zu Zeiten der Corona-Pandemie

Claudia Stockmann, ex. Gesundheits- und Krankenpflegerin, Dipl. Sozialarbeiterin, tätig in der Senior*innen- und Pflegeberatung des Caritasverbandes Meschede e.V., unter anderem auch verantwortlich für die Mieter*innen der Service-Wohnungen des Caritasverbandes,

und

Christian Stockmann, Sozialfachlicher Vorstand sowie Vorstandsvorsitzender des Nachbar-Caritasverbands Arnsberg-Sundern e.V., berichten im folgenden Interview aus erster Hand von Ihren beruflichen und persönlichen Erfahrungen in ambulanten und stationären Settings der (Alten-)Pflege zu Pandemie-Zeiten.

Welche Veränderungen erleben Sie seit Pandemiebeginn in den ambulanten und stationären Angeboten für unterstützungsbedürftige alte Menschen?

Christian Stockmann: Von jetzt auf gleich war im März mit der Corona-Pandemie auf einmal alles anders. Zu Recht hat unsere Bundeskanzlerin im Frühjahr 2020 gesagt, es stünde uns die größte Herausforderung nach dem zweiten Weltkrieg bevor. Ging es zu Beginn im Frühjahr erst mal um Existenzsicherung und Schutz der Einrichtungen und Dienste (Beschaffung von Schutzausstattung, Hochziehen von pandemischen Hygienekonzepten in den Einrichtungen und vieles andere mehr…), standen wir als Caritas dann aber vor der großen Herausforderung über eine längere Zeit eine menschenorientierte Arbeit im Rahmen der Pandemie sicherzustellen, die gerade von der zwischenmenschlichen Begegnung lebt und diese braucht. Auf einmal musste alles auf Abstand gestaltet werden („Social Distancing“ bzw. soweit möglich physische Distanz). Gerade in den sozialen und pflegerischen Berufen eine riesengroße Herausforderung. Deshalb haben sich manche Träger und Einrichtungen auch dazu entschieden, bis heute noch viele persönliche Kontakte nicht zu erlauben (Stichwort Isolation). Ich bin sehr froh darüber, dass wir im Verband soweit erdenklich machbar die Kontakte der Menschen untereinander trotz der Herausforderung und Corona-konform sichergestellt haben und wir uns nicht isoliert haben.

Claudia Stockmann: Das sofortige Herunterfahren aller sozialen Kontakte war insbesondere für die alleinlebenden älteren Menschen ein schwieriger Lebenseinschnitt, ganz besonders bei den oft alleinlebenden Älteren mit eingeschränkter Gesundheit oder Mobilität. Eine Dame (90 Jahre) sagt dann auch über die Pandemie und den Lockdown, dass dies ihre „Lebenszeit rauben“ würde, von der sie nicht mehr so viel habe.

Die Senior*innen im ambulanten Bereich sind auf einen Schlag komplett aller persönlichen Kontaktmöglichkeiten beschnitten worden. Angehörige sind nur noch bis vor die Tür gekommen, um Einkäufe zu übergeben, es gab keine Begegnungen mehr durch selbstständiges Einkaufen oder auf dem Weg in die Stadt etc. Dies war eine extrem belastende Situation. Es gab und gibt bis heute keine gemeinschaftlichen Angebote. Vielen blieb und bleibt als einzige Möglichkeit das Telefon. Im Sommer konnten kleine Treffen im Freien stattfinden, der Winter war dann aber eine sehr problematische Zeit. Vorsichtige Treffen zu zweit z.B. zum Spaziergang finden jetzt sorgfältig überlegt teilweise wieder statt. Bei einigen hat die Pandemie aufgrund der psychischen Belastungen aber zu deutlichen Verschlechterungen der gesundheitlichen Situation geführt. Je länger wir mit der Pandemie zu kämpfen haben, um so schwerwiegender werden die Folge dieser Einsamkeit.

Wo haben sich Versorgungslücken ergeben bzw. vergrößert? Bzw. inwiefern erleben Sie auch Versorgungsbrücken, die durch die (Folgen der) Pandemie gestärkt wurden oder gar erst entstanden sind?

Claudia Stockmann: Lokale Initiativen haben sich insbesondere der Menschen angenommen, die keine Unterstützung durch Angehörige, Pflegedienste etc. hatten. Dabei sind aber bei weitem sicherlich nicht alle Hilfebedarfe „entdeckt“ worden. Da, wo sich Hilfesuchende ohne persönliches Hilfenetz bemerkbar machten, konnten zumindest kleine Hilfestellungen organisiert werden. Nach meiner Einschätzung waren aber sicherlich auch einige der älteren und hilfebedürftigen Menschen in dieser Zeit ohne Kontakt und ohne große Hilfe und mussten irgendwie zurechtkommen.

In den Zeiten mit etwas moderateren Inzidenzzahlen wären Corona-konforme Treffen unter Einhaltung der Hygieneregeln denkbar und erlaubt gewesen, es fehlte dafür jedoch an geeigneten Flächen, Räumen oder Möglichkeiten.  Gemeindehäuser etc. waren geschlossen oder es fehlten barrierearme Zugänge. Die Senior*innen äußerten bei jedem Kontakt, dass sie sich wieder mehr persönliche Kontakte und mehr Gemeinsamkeiten wünschen.  Um den Kontakt zu halten und auch untereinander die Bindungen nicht zu sehr zu schwächen habe ich mit ehrenamtlicher Unterstützung und immer im Rahmen der gerade geltenden Rahmenbedingungen den „Flurfunk“ eingeführt: Ich habe an allen Türen (max. 4) auf einem Flur geklingelt, für ein gemeinsames, wenn auch kurzes Gespräch auf dem Flur mit Abstand und Maske. Auch zu Ostern mit kleiner Überraschung für die Senior*innen. Die persönlichen Gespräche haben dazu beigetragen, dass ich die persönlichen Situationen und Umstände besser einschätzen und entsprechend darauf reagieren konnte.

Christian Stockmann: Im Unterschied zur (politisch formulierten) öffentlichen Wahrnehmung sind die großen Versorgungslücken im Vergleich gerade nicht in den stationären Einrichtungen entstanden. Klar war vieles auf einmal anders und schwieriger und nicht mehr so, wie wir alle es gewohnt waren. Viel hat darunter auch leiden müssen. Begegnungen konnten auch nicht mehr wie gewohnt in der Intensität oder Häufigkeit stattfinden, wurden reduziert bzw. anders als sonst ermöglicht. Aber viel dramatischer ist die Situation der vielen älteren Menschen gewesen, die alleine zu Hause gelebt haben. Einige sicherlich mit einer immer noch guten ambulanten pflegerischen Versorgung. Aber viele auch ohne all dies. Die wenigsten Familien leben ja in einem Mehrgenerationenhaus, wo familiäre Hilfe vorhanden ist. Aufgrund beruflicher Veränderungen sind auch viele Angehörige weggezogen oder auch nicht mehr so flexibel. Wer hat sich konkret um diese alleinstehenden älteren Menschen gekümmert? Auch die Kirchengemeinden und die pastoralen Mitarbeiter*innen waren nicht mehr so präsent. Gottseidank entstanden einige soziale Initiativen, die sich kümmerten, und auch manche Nachbarschaftshilfe war eine wichtige Unterstützung. Aber von der Öffentlichkeit, von der Politik, wurden genau diese älteren, zu Hause lebenden Menschen oft nicht wahrgenommen.

Welche Unterschiede gibt es Ihrer Erfahrung nach diesbezüglich zwischen häuslichem Umfeld oder ambulanten und stationären Angeboten?

Claudia Stockmann: In einer Pflegeeinrichtung haben Menschen täglich andere Menschen um sich herum und es ergeben sich persönliche Kontakte. Dies ist bei Menschen in ihrem häuslichen Umfeld ganz anders. Je nach Konstellation kann es sein, dass Menschen so gut wie gar keine Kontakte mehr haben, zumal wenn sie immobil sind und auf Hilfe angewiesen. Dann spielt die Sorge um die eigene Versorgung, die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten, Ängste vor Versorgungsengpässen oder auch daraus resultierende Einsamkeit eine große Rolle.

Eine große Herausforderung war zudem auch die Vermittlung der Hygiene und Abstandsregeln. Nicht alle konnten diese sofort anwenden und umsetzen. Ein Mieter hatte beim „Flurfunk“ dann seine Maske um 90° gedreht auch über den Augen aufgesetzt und war der Verzweiflung nahe. Deshalb mussten die Regeln zunächst gut und einfach erklärt und teilweise auch geübt werden: Wie muss eine Maske richtig aufgesetzt werden, wo fasse ich sie an und wo kommen die Gummibänder hin?

Für unsere Mieter*innen in den Seniorenwohnungen sind des Weiteren gerade der gemeinsame Mittagstisch im Seniorenzentrum, der Mieterstammtisch, gemeinsames Kaffeetrinken sowie unsere Gruppengespräche und alles, was das Leben in einem Haus mit Servicewohnungen attraktiv macht, entfallen. Und da es noch immer nicht absehbar ist, wann sich die Situation wieder verbessert, macht sich teilweise auch ein wenig Resignation breit.

Christian Stockmann: Öffentlich und politisch gab es einen klar fokussierten Blick gerade auf die stationären Einrichtungen, und später auch auf die ambulante Versorgung. Darüber sind die vielen älteren Menschen zu Hause in ihren Wohnungen leider politisch in Vergessenheit geraten.  Die älteren Personen, die durch unsere ambulante Pflege versorgt wurden, hatten darüber noch Kontakt, Unterstützung und ergänzende Hilfeleistungen. Wir haben uns da immer wieder einbringen können. Aber die vielen Menschen,  die zum Beispiel gar keine pflegerische Versorgung oder Begleitung hatten, standen auf einmal sehr alleine da. Da fällt mir persönlich in der Familie auch meine eigene Mutter ein. Alleinstehend und alles, was sie gehabt hatte, war auf einmal nicht mehr möglich. Ich – im Sauerland, sie – im Ruhrgebiet. In aller Eile haben wir sie „technisch fit gemacht“, mit Smartphone, Threema und Skype ausgestattet, so dass wir täglich miteinander im Kontakt sein können. Aber auch das geht nicht in allen Fällen.

Im letzten Jahr hat sich auch die verfasste Kirche aus meiner Sicht schon sehr radikal aus der Öffentlichkeit „zurückgezogen“. Und damit meine ich nicht nur die Gottesdienste, sondern auch die pastorale Arbeit in der Gemeinde. Die Kirchengemeinden  wurden dann auch schnell aufgefordert die Gemeindehäuser zu schließen (Lockdown). Das hatte vor Ort auch Auswirkungen auf unsere Caritas-Arbeit, da wir sehr eng mit der Pastoral zusammenarbeiten und auch Räumlichkeiten in den Gemeindehäusern nutzen, gerade auch für die caritativen Hilfen und Angebote. In unserem Verband bestand auf einmal die große Sorge, dass mit Schließen der Gemeindehäuser auch Angebote des Caritasverbandes für die Menschen in unserer Stadt nicht mehr erreichbar sein und wir keine Hilfe und gerade in dieser Corona-Krise keine Unterstützung mehr anbieten könnten. Es ist uns aber mit großer Anstrengung gelungen, unter Corona-gerechten Hygienevorgaben weiterhin für die hilfesuchenden Menschen ansprechbar und erreichbar zu sein, z.B. durch das Gespräch am Telefon bzw. durch das geöffnete Fenster oder das Überreichen von Mittagessen durch die Tür sowie das Gespräch auf dem Kirchhof vor der Einrichtung.

Wie stehen Sie zur in den Medien oft eher negativ konnotierten Darstellung der Situation in der (Alten-)Pflege während der Pandemie? Gibt es hier wiederum Diskrepanzen zwischen diesen beiden Sektoren?

Christian Stockmann: In der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in den politischen Diskussionen auch von ministeriellen Vertreter*innen ist immer wieder über die schwierige Situation und das Leben der älteren Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen gesprochen worden. Ja es stimmt, es ist eine sehr herausfordernde Zeit. Für die Menschen in den Einrichtungen, für deren Angehörige, aber auch für die Kolleg*innen. Aber so, wie auch unser Ministerpräsident und Gesundheitsminister es manchmal formuliert haben, hörte es sich teils so an, als wenn die Seniorenhäuser – sorry, ich muss es jetzt mal sagen – wie „geschlossene Justizvollzugsanstalten“ gewesen wären. Damit ist in der Öffentlichkeit, vielleicht nicht bewusst, aber dennoch ein falsches Bild gezeichnet worden, zumindest wurde aus meiner Sicht zu Unrecht zu sehr pauschalisiert.

Die Krankenhäuser mögen sich vielleicht hinter ihren Türen verschlossen und den Kontakt zu den Angehörigen deutlich reduziert haben. Aber die Einrichtungen in der Altenhilfe haben sich richtig „krummgelegt“, um so viel wie möglich an Kontakten sicherzustellen. Für dieses Engagement kann ich nur sagen, Hut ab! Mit großer Kraftanstrengung waren unsere Einrichtungen und die Kolleg*innen da dran. Da war die Tinte noch nicht trocken auf der Verordnung der Landesregierung, da haben wir im Sinne der Menschen so viel wie möglich und mit dem größten Schutz vor einer Infektion sichergestellt: Das „Fensterln“, Gespräche über den Balkon, im Garten, Chatten, Aktivitäten vor dem Haus u.v.m. Große Freude war zu spüren durch die zahlreichen Aktionen, die ermöglicht wurden. Musikgruppen, Kindergärten und Schulen haben sich etwas einfallen lassen und die Menschen in den Senioreneinrichtungen begeistert. Auch unsere Kontaktclowns haben sich eingebracht und tolle Programme vor der Einrichtung aufgeführt. Auch wenn es in einer Einrichtung keine wohngruppenübergreifenden Angebote gab, hat z.B. sehr viel in den einzelnen Wohngruppen stattgefunden, auch der Wortgottesdienst – zwar nicht in der Kapelle, aber nah am Menschen in der Wohngruppe (siehe z.B. auch den Car-Lichtblicke Impuls von Dagmar Freimuth und Beatrix Fuchs vom 26.04.21).

Claudia Stockmann: Die Pandemie hat eine steigende Belastung für pflegende Angehörige und pflegebedürftige Menschen bewirkt, da das Versorgungssystem teilweise nur ausgedünnt zur Verfügung stand oder aus Sorge vor Ansteckung nicht mehr im gewohnten Umfang in Anspruch genommen wurde/wird. Häufig schwingt bei der Inanspruchnahme auch unabdingbarer Hilfen immer auch die Angst vor der Ansteckung mit. Deshalb wurden auch bei ambulanten Pflegediensten insbesondere am Beginn der Pandemie viele Versorgungsangebote reduziert oder auch abgesagt. Zum Teil war das auch dem geschuldet, dass Pflegekräfte selber erkrankt waren oder als erste Kontaktperson in Quarantäne mussten und nicht mehr arbeiten konnten. Die Tagepflege als gutes Entlastungsangebot wird teilweise immer noch zurückhaltend in Anspruch genommen, zumal dort zu Beginn der Pandemie zunächst nur eine Notversorgung vorgehalten wurde. Diese Auswirkungen und die Themen Einsamkeit und fehlende Kontakte waren nicht im Blickfeld der politisch Verantwortlichen.

Welche sind momentan Ihre persönlichen Care-Lichtblicke?

Claudia Stockmann: Der große Lichtblick ist die Impfung. Die Mieter*innen in den Seniorenwohnungen sind schon seit einiger Zeit komplett geimpft. Auch die Patient*innen der Sozialstation und der Tagespflegen sind zunehmend geimpft und fühlen sich damit auch sicherer, wieder die professionellen Angebote anzunehmen. Der größte und immer wieder geäußerte Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe ist aber zurzeit trotz Impfung noch nicht möglich. Sofern aber die Witterung es zulässt und die Pandemie durch die Impfungen weiter zurückgedrängt wird, werden sich Senior*innen sicherlich wieder mehr auch außerhalb ihrer Wohnung aufhalten und hoffentlich unter Einhaltung der geltenden Regelungen auch wieder mehr Kontakte haben, was zu einer deutlichen Verbesserung des persönlichen Wohlbefindens führen kann. Das lässt als heller Lichtblick wieder etwas mehr Hoffnung und Optimismus zu.

Christian Stockmann: Mein großer Lichtblick in dem Corona-Jahr ist, wie sehr wir in den Einrichtungen und Diensten, die Kolleg*innen, mit den Bewohner*innen und Patient*innen und deren Angehörigen eng zusammengearbeitet haben und dass sich an vielen Stellen Menschen in der Gesellschaft auch solidarisch engagiert gezeigt haben. Ich wünsche mir aber daraus abgeleitet noch einen Lichtblick bei den politisch Verantwortlichen: Die politische Erkenntnis, dass es so wie bisher gesellschaftlich nicht weitergehen kann. Die Ökonomisierung im Sozial- und Gesundheitsbereich über die vielen Jahre hat auch einen wesentlichen Anteil daran, dass wir in der Pandemie so große Schwierigkeiten hatten und auch deswegen Menschenleben verloren haben. Diesen Lichtblick und diese Erkenntnis wünsche ich mir!

Bild/Quelle: Claudia und Christian Stockmann (privat)

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