Fortführung des Artikels vom 26.07.2021
Je nach Lesart lässt sich inhaltlich im Text von einer Form struktureller Gewalt sprechen, der die zeitweise beklatschten Heldinnen im Text ausgesetzt sind. Diese Gewalt ist keine Aggression. Sie ist nicht intentional und wird nicht persönlich, direkt zugefügt. Aber sie wirkt. Sie geschieht. Täglich. Stündlich. Das Protokoll der Osterwoche schildert, möchte man dieser Lesart folgen, eine besondere Gewalt der Seuche, die auf die zuvor bereits veränderungsbedürftigen Zustände trifft und zahlreiche Spuren und Narben hinterlässt (vgl.: midi 2020; IPP 2020 für die Pflegeberufe; aber auch FHNW 2021; Meyer, Buschle 2020 für die Sozialarbeitsberufe).
Die Tagesprotokolle veranschaulichen jedoch auch den Dienst für eine freiheitliche Gesellschaft, den diese Menschen täglich erbringen (verstanden als eine Personengruppe unter vielen). Denn es sind Menschen, wie sie uns in diesem Text begegnen, die die strukturelle Rationalität aktiv herstellen, die schließlich dazu führte, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbrach, nicht gänzlich überlastete. Das gilt leider nicht für alle Kolleginnen. Die Tagesnotizen veranschaulichen einen Drang zum Sein, der ein kritischen Potenzial zur Veränderung der im Text ersichtlichen Entfremdungen aufzeigt. Es lohnt sich also, die in diesen Dokumenten enthaltenen Sinnstrukturen einzusehen und anerkennend wirken zu lassen. Sie bringen die Chance mit sich, zuvor eher seltener für eine breitere Öffentlichkeit wahrzunehmende Perspektiven weiterzutragen. Dies geschieht momentan an vielerlei Orten, die Potenzial für kollektiv affizierende Gründe bieten. Es sind Bausteine der Hoffnung, um die Lehren und Schmerzen der Pandemie in ein überschreitendes Denken zum antizipierenden Bewusstsein führen lassen zu können (Vgl.: Bloch [1959]1985, S.84). Denn, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt immer noch „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde [1976]2016, S.60). Aber er lebt dennoch weiterhin heraus aus anthropologischen Universalien, wie Fürsorge, Hoffnung und Liebe, wenn es sich Menschen wechselseitig ermöglichen, freiheitlich zu leben. Dabei sind Sorgeberufe ein bedeutsamer struktureller Teil zur Chance der Freiheit aller, die zu erhalten und zu realisieren unser aller Aufgabe ist. Während wir diese Zeilen tippen, bewegen uns die nachbarschaftlichen, beruflichen, persönlichen, wie aber auch strukturellen und politischen Hilfsmechanismen, die die ebenfalls noch nicht begreifbaren Zerstörungen der Naturkatastrophen an vielen Orten zu beseitigen und ein wenig zu heilen beginnen. Aber diesen Gedanken zu vertiefen, wäre ein anderer Beitrag.
So wie Sie bis hier gelesen haben, danken wir Ihnen und lassen Sie nun weiter in den angemessen-irritierenden Protokolle der Kollegin eintauchen. Sie sind erneut herzlich eingeladen, Ihre Gedanken mitzuteilen und die Kommentarfunktion zu nutzen, um gemeinsam weiterzudenken.
Donnerstag 1.4.
9 eigentlich im Frühdienst. Ich komme um 6.00 Uhr, weil ich ein komisches Bauchgefühl habe, Maximilian ist krank, somit sind nur 8 im Dienst. Ich bin “Simone” bis Simone kommt. Louisa hat ihren ersten Tag! Heidi springt ein, um sie mitzunehmen. Furchtbarer Vormittag. Alle tun ihr Möglichstes.
Ich rufe um 6.00 Uhr die KPDL an. Heike sagt, es gibt nichts auf dem Campus zu holen. Sie habe Feierabend. [Rufdienst der Klinikpflegedienstleistungen (KPDL). Jeder Bereich hat seine eigene Telefonleitung. Werktags in der Zeit von 7.00 bis 22.00 Uhr und am Wochenende in der Zeit von 6.00 bis 22.00 Uhr übernimmt jeweils eine Bereichsleitung den Rufdienst für den kompletten Campus.]
Ich telefoniere. Louisa und Simone reden trotzdem zeitgleich mit mir. Ich packe das klinische Lager aus und telefoniere gleichzeitig. Ich versuche zu klären, ob Maximilian weiter krank ist, da sonst das Wochenende zusammenbricht. Tausche mit Sophie den Dienst, wegen Fachlichkeitsmangel im Spätdienst. Versprach Otto ihn mitzunehmen am Wochenende.
Oberarzt Sylvester nimmt Übernahme für 12h von Intensivstation 3 an. Kollegen informieren mich. Ich telefoniere mit der Station und verschiebe die Aufnahme in den Spätdienst. Rückmeldung an Sylvester, der belächelt mich. Nina hat ihren ersten Tag nach der Einarbeitung. Neuer Zeitarbeiter fängt an. Es fällt bei seiner Spind-Begehung auf, das Abdel noch nicht seinen Schlüssel abgegeben hat. Info an Andreas: Schlüsselübergabe am Wochenende geplant.
Seifert am Freitag raus aus dem Spätdienst. Dafür Samstag rein, um Anna und mich zu unterstützen. Ali und Mersad wegen Wochenende angeschrieben. Beide können nicht, wie sich später Donnerstag zeigt. Wochenendbesprechung. Ich versuche die teils wackeligen Dienste zu erklären. Cloud einpflegen. Malte hat Spätdienst und nimmt den Zeitarbeiter mit. Auch den Reafunk übernimmt er. Ich möchte mich mit ihm besprechen. Wir treffen unten auf „xy“. Eine Übergabesituation entsteht nicht. Apotheke steht im Flur. Zwei Wagen und 12 blaue Kisten. Der Frühdienst dokumentiert seinen Dienst nach. Ich fange an die stationsspezifischen Artikel auszupacken, Dörte (Reinigungspersonal) und Melanie (Servicekraft) helfen mir aus Mitleid. Zwischendurch klingelt das Telefon wegen des Wochenendes: Heike Rückmeldung das Freitag der Spätdienst steht. Glaser bietet Zeitarbeiter an. Gottseidank!
Die Dozentin der Pflegeschule gibt Probe-Prüfung für Otto im August mit. Pflege-Dokumentation mit Otto üben! Otto hat wohl auch ein Nachweisheft, welches er pflegen muss. Das höre ich zum ersten Mal. Otto hat doch bereits ein ausländisches Examen, welches nur noch anerkannt werden muss. Die serbische Mitarbeiterin erscheint Gott sei Dank nicht zum Spätdienst. Wann und wie hätten wir sie einarbeiten können? „Entlastung“ ist heute eher Belastung. Ich biete einen Zwischendienst für das Wochenende an, da Maximilian immer noch fraglich arbeiten kommt.
Später von Zuhause:
Korrespondenz mit ihm, sich entsprechend bei Malte zu melden, wie es weiter geht. Darüber kam dann keine weitere Information von Malte. Dafür aber um 20:45h die Frage per Whatsapp, ob heute keine Ablaufbeutel gekommen seien?! Doch sind sie.
Freitag 2.4. (Ich habe frei)
Heike ruft mich an und wir vereinbaren einen Zwischendienst für Samstag 10-18h. Von mir dann Samstag Rückmeldung an den Rufdienst was mit Sonntag Frühdienst ist.
Einen Mitarbeiter von Montag Frühdienst in den Sonntag quatschen und Martha Dienstag von Frühdienst in den Spätdienst quatschen. Martha macht Dienstag Spätdienst und ist im Dienstplan noch nicht umgetragen.
Samstag 3.4.
Maximilian und Manuel schreiben mir morgens, dass Maximilian zum Dienst erschienen ist. Ich mache also einen regulären Spätdienst. Rückmeldung darüber an KPDL. Laura (Servicekraft) schleicht rum und sagt, dass Melanie im Spädienst krank sei und ausfällt. Melanie hat sich bei ihr zwischen „Tür und Angel“ krankgemeldet.
Die Station sieht aus wie ein Schlachtfeld, bei 9er Besetzung und Mehmet (Krankenpflegehelfer).
Viele Schubladen sind leer. Dialysat-Beutel geholt. Mehrere Kisten aus dem Keller geholt. Akten wegsortiert und dabei Wertsachenprotokolle gefunden, mit jeweils zwei Geldbeträgen über 100€! Liegt als Kopie im Fach. 3 freie Betten und zwei Mal Bauchlage. Gespräch mit der Assistentin über die Oberärztin. Sehr niedergeschlagen über Therapien oder Verhinderung der Sterbeprozesse der Patienten. Außerdem bei Meldung der Missverhältnisse an Konstantin passiert nichts.
Wir bekommen noch einen Facharzt für Anästhesie? Interessant! Dabei vergrault Sylvester doch schon alle. Der Fotograf war da: Herr Ottomann leider zu spät für ein Foto. Das Foto wäre für die Social-Media-Präsenz der Station wichtig gewesen. Die Kollegen reagierten gewohnt emotional arm!
Hübner bekommt aus unserer Kasse dafür noch 30€. Neues Schema im Spritzenraum für Argartroban. War bei der Astrazenica-Patientin falsch aufgezogen. Es gibt Mitarbeiter, die immer noch nicht wissen, wie man Klacid oder andere Antibiosen aufzieht. Wir brauchen Maltes Antibiosenschema!
Man erzählte mir von ADVOS und das entweder keine Nachfüllcontainer bereitständen. Der Dr. Heise wurde dafür mehrfach letzte Woche durch Sabrina aktiviert. Die Ärzte distanzierten sich wohl jeweils von dem Gerät und dann gab es irgendwann im SD oder Nachtdienst den Eklat, dass keiner Verantwortung ärztlicherseits für die Therapie oder die Maschine übernehmen wollte und alles auf die Pflege abgewälzt wurde. Frage dazu Maximilian oder Anna. Die zuständige Vertreterin wurde angerufen, aber da sie gar nicht in Essen in einem Hotel wohnt, sondern weiter entfernt, kam diese auch nicht oder half in der Situation. Außerdem sei wohl die Pflege am Patienten nicht eingewiesen gewesen. Wie auch immer das Ding ist ab und der zweite Versuch somit gescheitert!
Sonntag 4.4.
Heute wuselig. Kaputte Patienten. Ottos Zeitmanagement kommt ins Schwimmen. Mehmet erzählt mir, dass Louisa am Freitag wohl fragte, wer sie mitnehme. Alle hätten sich daraufhin umgedreht, sie habe Patienten versorgt? ALLEINE?! In der Küche sei sie wohl auf Mehmet und Laura getroffen und sei verständlicherweise darüber sehr sauer gewesen. Er war sich nicht mehr sicher, welche Patienten sie wohl vermeintlich betreut habe.
Ich bin fassungslos, falls es wirklich so war! Daraufhin Dir geschrieben, wie der Plan für Louisa ist.
Astrid angeschrieben, ob sie dies wohl Montag machen würde, was sie machen wird. Es wäre wirklich, wichtig die Einarbeitung hier zu klären. Genauso wie die von Otto. Der geht morgen mit Cordula, da ich mir das Genöle von Anna wirklich nicht anhören möchte. Suleyman ist richtig toll. Der muss nur lernen Pause zu machen.
Oberarzt Fritz hat seine Assistenten bis Mittag allein gelassen. Sie sollen die ZNA [Zentrale Notaufnahme] anrufen. Das habe ich der einen auch geraten, bei einer sehr schlechten Übernahme von Innere Station 1 mit rosa Viggo. Hat sie dann auch gemacht. Es gibt immer noch keinen Termin für eine Supervision zum Thema Mohammed? Wie kann das sein und woran liegt es? Wir brauchen die dringend.
Frau Karl, die sonst mehr raucht und quatscht als arbeitet, war da und musste die Zimmer 21 und 22 betreuen. Da hat sie auf jeden Fall arbeiten müssen. Herr Reitz hat einen besserklassigen Kleinwagen in Blut und Gerinnungspräparaten erhalten, die oben rein und unten rauslaufen. Der Mann ist wach und orientiert und wartet auf Dienstag, denn dann würde man eine sehr wichtige Untersuchung, in unserem Haus der Maximalversorgung, erst durchführen können.
Meine Patientin war leider nur einseitig intubiert, wie man heute nach der dritten Bronchoskopie herausfand! Vielleicht muss sie jetzt auch nicht mehr auf den Bauch. Das ist nämlich wieder der neue Trend bei uns. Herr Herbert möchte gerne in den Himmel. Das darf er nicht, deshalb presst er sich selbst in die Asystolie. Und der ein oder andere hat mal gedrückt. Oder aber 100% FIO2 und Propofol aus der Hand, durch die schlaue Schwester. Es ist sehr viel los. Dekubitus bei DRG sind alle noch offen. Den Juni-Plan wollte ich anfangen, kam ich nicht zu. Alle Lieferscheine liegen im Fach/Büro, ich hatte mit Röser angefangen.
Die Bestellhilfe, welche ich von Tanja bekam, bildet nur einen Bruchteil unseres Verbrauchs ab, falls sich also jemand hier beschweren möchte und am besten noch gleich darüber selbst profilieren will. Ich habe mein Möglichstes gegeben. Die FWB-Rotanten vom November Kurs 20 haben im April und Mai keine Schule. Ich sprach mit Frau Thomas darüber und wir können die Mitarbeiter mit Urlaub oder Diensten verplanen. Ich habe dazu Vorschläge der einzelnen Rotanten. Eine hat dann Urlaub, der ist im Dienstplan eingetragen, alle anderen wollen SD und ND, das wird nicht gehen. In der Arbeit ist auch ein Spätdienst nur mit 4 Mitarbeitern besetzt, falls Du da nochmal gucken möchtest, denn es betrifft die Woche 12. – 17.4.
Ich rate nochmal dazu, die Stationsleitungs-Dienste mit zwei Personen zu besetzen. Ich habe mit Malte kurz über die Woche gesprochen und sein Kommentar dazu war: „Ich bin froh, dass es jetzt auch MAL Dich trifft“!
Bild/Quelle: Rusty Watson/unsplash
Literatur (Teil 1&2)
Bloch, Ernst ([1959] 1985): Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 554).
Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2016 [1976]): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht.
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit (April 2021): Soziale Arbeit in der Covid-19 Pandemie. Eine empirische Studie zur Arbeitssituation, Belastung und Gesundheit von Fachpersonen der Sozialen Arbeit in der Schweiz. Ergebnisbericht. Olten. Sommerfeld, Peter; Hess, Nadja; Bühler, Sarah, Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit Riggenbachstrasse 16, 4600 Olten.
Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) (Juni 2020): Zur Situation der Langzeitpflege in Deutschland während der Corona-Pandemie. Ergebnisse einer Online-Befragung in Einrichtungen der (teil)stationären und ambulanten Langzeitpflege. Bremen.
midi / Ev. Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. (Nov. 2020): Covid-19-Pflegestudie der Diakonie. Eine Ad-hoc-Studie zu den Erfahrungen von Diakonie-Mitarbeitenden in der Altenhilfe/-pflege während der Covid-19-Pandemie. Berlin. Hörsch, Daniel; Prestin, Heike et al. Online verfügbar unter https://www.mi-di.de/materialien/covid-19-pflegestudie-der-diakonie.
Meyer, Nikolaus; Buschle, Christina (2020): Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie: Zwischen Überforderung und Marginalisierung. Empirische Trends und professionstheoretische Analysen zur Arbeitssituation im Lockdown. In: IUBH Discussion Papers, Reihe: Sozialwissenschaften 1 (4).